Das Phänomen dürfte jeder Trainer kennen, der in Sachen Führungskräftetraining unterwegs ist. Noch ehe man die erste Einheit so richtig gestartet hat, fallen Sätze wie diese: "Das sollten Sie mal unseren Vorgesetzten erzählen!" oder "Eigentlich müssten unsere Chefs hier sitzen, die hätten es nötiger." Nicht selten wird auf diese Weise aus einem Seminar zum Thema "Wie führe ich meine Mitarbeiter?" eine Veranstaltung mit dem Titel: "Wie führe ich meinen Vorgesetzten?"
Wenn ich nun von Umfragen lese, in denen Führungskräfte so gar nicht zufrieden mit dem Entscheidungsverhalten ihrer Chefs sind, weil diese oft schon eine Lösung im Kopf haben und nur noch der Form halber die Mitarbeiter einbinden, dann wundert mich das erst mal nicht. Wenn dann das obere Management gefragt wird, was es denn vom Entscheidungsverhalten im eigenen Unternehmen hält, und dieses dann ganz zufrieden ist, dann wird daraus schnell gefolgert, dass hier offensichtlich Fremd- und Selbstbild weit auseinander klaffen.
Ist das so?
Noch einmal zurück zu unseren Seminarteilnehmern. Würde man tatsächlich die nächste Ebene im Seminar sitzen haben und fragen, wie es denn so um das Führungsverhalten steht, so beschweren diese sich auch massiv über ihre Chefs. Und das setzt sich nach oben weiter fort. Findige Trainer lassen diese Diskussion eine Weile laufen und fragen dann ganz arglos: "Was glauben Sie denn, würden Ihre Mitarbeiter sagen, wenn wir sie hier im Seminar hätten?"
Meist ist dann einen Augenblick Ruhe, und schon bald meldet sich der erste und gesteht ein, dass die Mitarbeiter vermutlich Ähnliches über sie berichten würden. Worauf sich eine Diskussion über die Rahmenbedingungen anschließt, dass man oft ja gar nicht anders kann usw. usw.
Das Selbstbild ist also gar nicht so weit weg vom Fremdbild. Vielleicht wird ja oft nur falsch gefragt. Statt alle Ebenen das Gleiche zu fragen ("Wie zufrieden sind Sie mit...") wäre es mal interessant zu fragen: "Was glauben Sie, wie zufrieden Ihre Mitarbeiter mit Ihrem Führungsverhalten sind?" Ich schätze, dass dann Fremdbild und vermutetes Fremdbild weitaus enger beieinander liegen.
Was nicht bedeutet, dass das in der besagten Umfrage erfasste Entscheidungsverhalten in Wahrheit besser ist. Ich fürchte, dass das Konsultieren der nächsten Ebene und die Berücksichtigung der erhobenen Argumente nach wie vor nicht allzu weit verbreitet sind...
Rezension zum Thema:
Der einsame Entscheider, Financial Times Deutschland, enable 5/2010
Dienstag, 15. Juni 2010
Selbst- und Fremdwahrnehmung
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2 Kommentare:
Hallo Herr Thönneßen,
auch in Coachings stellt sich die Frage oft und die zirkulären Fragen sind da ungemein hilfreich, um den Klienten zu unterstützen, sein Denken zu überprüfen.
Es ist verführerisch und manchmal auch nützlich über die Chefs und Fehler der anderen zu sprechen. "Dampf" ablassen. Doch dann sollte der eigene Gestaltungsraum im Fokus stehen:
"Wie nützlich und konstruktiv schätzen Sie unser Gespräch im Hinblick auf Ihre Ziele gerade ein?"
"Was werden Sie persönlich nun machen?"
Viele Grüße,
Christoph Schlachte
http://www.systemische-unternehmensberatung-und-coaching.de/
Oder, anders gefragt: "Der Fisch fängt am Kopf an zu stinken. Wie geht es dann eigentlich den Schwanzflossen (= ihre Mitarbeiter)?"
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