Freitag, 27. April 2012

Die Wirkung von Messungen

Da wundert sich der Vorsitzende einer großen Handelskette in den USA, dass die Umsätze nachgeben, obwohl die Befragungen der Kunden seit Jahren hohe Zufriedenheitswerte ergeben. Er macht sich inkognio auf in sein Reich, besucht 70 Filialen und beobachtet Erstaunliches. Statt sich um die Kunden zu kümmern, sind die Verkäufer damit beschäftigt, aufzuräumen und die Regale zu füllen. Sie wendeten den Kunden den Rücken zu statt sich ihnen zuzuwenden.

Für den Umsatzrückgang gab es zwar noch weitere Gründe, aber wie kam es, dass die Kunden sich trotz dieser mangelnde Zuwendung in den Befragungen zufrieden zeigten? Die Erklärung: Man hatte die falschen Fragen gestellt. Tatsächlich wollte man wissen, ob es überall sauber sei, die Fensterscheiben frisch gereinigt, die Toiletten geputzt und die Regale gefüllt waren.

Da wundert sich der Leser gleich mehrfach. Wie kann es sein, dass erst der große Vorsitzende persönlich hinter dieses Geheimnis kam? Hatte niemand zuvor das merkwürdige Verhalten der Mitarbeiter beobachtet? Und wieso wurde Kundenzufriedenheit an der Sauberkeit der Fußböden statt am Service festgemacht?

In dem Beitrag im Harvard Business Manager schildert der Chef persönlich seine beeindruckenden Erkenntnisse und welche Maßnahmen man anschließend ergriff. So sorgte man dafür, dass das Auffüllen der Regale weniger Zeit in Anspruch nimmt, die Läden verkleinert und die Mitarbeiter geschult wurden. Mehr noch: Sie machen nun alle einen Persönlichkeitstest, um vor allem diejenigen zu trainieren oder auszusortieren, die sich schwer tun, auf Menschen zuzugehen.

Ob man die Kundenzufriedenheits-Umfragen veränderte, verrät er nicht. Und zur Frage, wieso man die falschen Dinge erfasste, finden sich auch keine Hinweise. Zwei Vermutungen drängen sich auf:

Natürlich haben viele andere das Verhalten der Verkäufer beobachtet und sich ihre Gedanken gemacht. Vielleicht haben sie auch mehrfach versucht, ihre Beobachtungen mitzuteilen. Nur werden sie damit wenig Erfolg gehabt haben und mit dem Hinweis: "Was wollt Ihr denn, die Kunden sind doch zufrieden?" abgewiesen worden sein. Und irgendwann in der Vergangenheit wird es eine Leitung gegeben haben, bei der die Werte "Ordnung" und "Sauberkeit" eine große Rolle gespielt haben. Was dazu geführt hat, die Umsetzung dieser Werte mit Hilfe von Kundenbefragungen zu messen.

Das mag uns lächerlich vorkommen, ich fürchte nur, das etwas Ähnliches an vielen Stellen passiert. Woraus sich wiederum zwei Schlussfolgerungen ergeben:

Man sollte sich regelmäßig seine "Mess-Systeme" anschauen und untersuchen, welchen Einfluss sie auf das Verhalten von Mitarbeitern, Lieferanten, Partnern und Kunden haben. Jede Messung hat eine Wirkung auf das, was gemessen wird. Sie zeigt den Menschen, was denjenigen, die die Fragen stellen, wichtig ist. Daran werden sie sich orientieren.

Zum anderen kann es nicht schaden, sich regelmäßig an oberster Stelle über die eigenen Werte auszutauschen. Selbst wenn diese nicht fein formuliert in den Unternehmensleitlinien stehen, haben sie einen ernormen Einfluss - nicht nur auf Messverfahren, sondern auf jede Entscheidung, die in einer Organisation getroffen wird. Und man sollte nicht den Irrtum begehen, die schriftlich formulierten Werte für die "echten" zu halten. Beide können stark auseinanderklaffen.

Aber wann hat ein Vorstand Zeit, über die eigenen Werte nachzudenken? Andererseits: Wieso hat ein Vorstandsvorsitzender Zeit, 70 Filialen zu besuchen?

Rezension zum Thema:
Der Chef als Mystery Shopper, Harvard Business Manager 3/2012

Donnerstag, 19. April 2012

Alles für den Kunden?

Es ist so eine Sache mit den Managementkonzepten. Ich stelle mir das ungefähr so vor: Da stellen kluge Menschen fest, dass in bestimmten Bereichen Defizite auftreten. Dass z.B. die Kunden vernachlässigt werden. Oder dass die Qualität nicht stimmt. Oder dass ein Unternehmen ein schlechtes Image bei potenziellen Bewerbern hat. Mit dem analytischen Blick wird das Problem in seine Einzelteile zerlegt und festgestellt, dass die Ingenieure schrecklich verliebt in ihre Produkte sind und die Bedienungsanleitungen so verfassen, dass nur ihresgleichen sie verstehen. Oder dass der Vertrieb und die Marketingabteilung aneinander vorbeireden. Oder niemand sich anschaut, wie der Kunde tatsächlich mit dem Produkt umgeht usw. usw.

Sinnvoller Weise werden daraufhin Maßnahmen ergriffen. Und wenn man schon mal ein praktikables Vorgehen entwickelt hat, wird dieses mit einem Etikett versehen: Kundenorientierung! Qualitätsmanagement! Change Management! Nachhaltigkeit! Employer Branding!

Mit diesem Konzept geht der kluge Mensch nun auf andere Unternehmen zu und erklärt ihnen, wie das so geht mit der Kundenorientierung. Damit sich das lohnt, wird die gesamte Organisation auf den Kopf gestellt und jeder Prozess auf seine Kundenorientierung untersucht - bis keiner mehr den Begriff hören kann und sich entnervt abwendet.

Dann folgt die nächste Welle, der nächste Begriff. Und der Kunde verschwindet wieder aus dem Blick, weil ja jetzt sich alles nur noch um Supply Chain Management dreht. Oder um Prozessoptimierung.

So ein Management hat es aber auch nicht leicht. Im Grunde ist doch all das irgendwie wichtig. Natürlich darf ein Unternehmen seine Kunden nicht vernachlässigen. Natürlich muss es auf die Qualität der Produkte achten. Natürlich muss es Veränderungen rechtzeitig erkennen und umsetzen. Natürlich sollte es sich sozial verantwortlich verhalten. Aber wie soll man all das gleichzeitig im Blick behalten? Und das auf jeder Ebene, angefangen vom Aufsichtsrat über Vorstand, alle Führungsebenen und sämtliche Mitarbeiter. Dabei nicht nur über einen bestimmten Zeitraum, sondern auch noch langfristig, dauerhaft. Ohne dass alle Betroffenen nur entnervt den Blick abwenden und abwinken nach dem Motto: "Solche Trends kommen und gehen, das überleben wir auch."

Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung. Mir ist nur immer mulmig, wenn eine ganze Organisation auf umgekrempelt wird und alles und jeder auf ein Konzept ausgerichtet wird. Es gibt sicherlich auch ein "Zuviel" an Kundenorientierung, wo ein Konzept anfängt, Schaden anzurichten. Wenn nur noch Prozesse optimiert werden, dann wird die Qualität leiden. Das ist vergleichbar mit einseitiger Ernährung - zu viel von einem Konzept schadet langfristig der Gesundheit einer Organisation, und diese wird sich wehren.

Aber wie bekommt man die richtige Mischung hin? Der Nutzen dieser Konzepte liegt meines Erachtens weniger darin, dass sie ein Unternehmen grundsätzlich verändern, auch wenn das von den Vertretern der jeweiligen Mode behauptet wird. Sie dienen mehr dazu, eine bisher vernachlässigte oder zwischenzeitlich aus dem Fokus geratene Facette wieder ins Bewusstsein zu rücken. Einfach mal den Scheinwerfer darauf zu richten und zu schauen, wo sich Nachlässigkeiten eingeschlichen haben, wo Optimierungsbedarf besteht.

Vielleicht wechselt man einfach in regelmäßigen Abständen diesen Fokus: Drei Monate Kundenorientierung, drei Monate Prozessoptimierung, drei Monate Qualitätsmanagement, drei Monate Shareholder Value, drei Monate Mitarbeiterbindung, drei Monate Employer Branding... und dann geht es wieder von vorne los. Hätte den Vorteil, dass die Begriffe nicht so schnell "ausleiern". Hätte aber den Nachteil, dass man keine Mega-Projekte anstoßen kann, die vor allem den Beratern den Arbeitsplatz sichern.

Ist ja nur so eine Idee...

Rezensionen zum Thema:
Moments of Truth
Von Zahnrädern und Zahnriemen, Zeitschrift Führung + Organisation 3/2011

Dienstag, 10. April 2012

Soziale Unternehmen

Wenn große Konzerne plötzlich ihr Herz für die Gesellschaft, für die Bedürftigen, für die Umwelt und für fairen Handel entdecken, dann löst das erst einmal Misstrauen aus. Nicht weiter verwunderlich, denn wer jahrelang den Shareholder-Value gepredigt und jede Entscheidung mit Blick auf den Aktienkurs begründet hat nach dem Motto: "Wir dienen der Gesellschaft, wenn wir Gewinn machen, weil wir nur dann wachsen können und damit weitere Arbeitsplätze schaffen, das reicht!", dem wird zunächst unterstellt, dass jedes soziale Engagement vor allem dem Image dienen soll und damit letztlich wieder dem Profit.

Glaubwürdiger ist es, wenn ein Unternehmensgründer mit dem klaren Bekenntnis startet, sowohl Nützliches für die Gesellschaft leisten zu wollen als auch Gewinn zu erzielen. Das ist allerdings alles andere als einfach, denn die beiden Ziele scheinen unvereinbar zu sein. Entweder man gründet eine Non-Profit-Organisation, die mit steuerlichen Vorteilen rechnen darf, oder ein Unternehmen, das Gewinn erzielen will und entsprechend steuerlich behandelt wird.

Aber dass soll sich jetzt ändern. Glaubt man den Gurus jenseits des großen Teiches, dann ist ein Trend zum "wohltätigen" oder "sozialen" Unternehmen festzustellen. Immer mehr Unternehmer wollen sowohl Nutzen stiften als auch Gewinn machen. "To make money" als einziges Ziel hat ausgedient, es geht um Höheres. Der Trend soll sogar geeignet sein, den Kapitalismus in seiner derzeitigen Form abzulösen.

Ist der Optimismus gerechtfertigt? Ich vermag das nicht zu beurteilen. Aber der Gedanke gefällt mir. Sehr sogar. Ich finde es auch gar nicht so schwer, die beiden Ziele in Einklang zu bringen. In einem Beitrag des Harvard Business Manager werden einige sehr einfache Prinzipien genannt, die dazu eingehalten werden müssten, und sie erscheinen mir unmittelbar einleuchtend:

Eine vernünftige Rendite: Soziale Unternehmen sind nur glaubwürdig, wenn sie sich mit einer überschaubaren Rendite zufrieden geben statt den Anteilseignern mit überzogenen Versprechen die Dollarzeichen in die Augen zu zaubern - und dies auch klar kommunizieren.

Eine breite Beteiligungsstruktur: Die Trennung von Eigentümer auf der einen und Mitarbeiter auf der anderen Seite birgt die Gefahr, das soziale Ziel irgendwann aus den Augen zu verlieren. Wenn die Mitarbeiter am Unternehmen beteiligt sind, eventuell sogar auch Kunden und Zulieferer, sinkt das Risiko.

Faire Bezahlung: Wer auf Kosten der Mitarbeiter den Gewinn abschöpft bzw. ihn unter den Anteilseignern verteilt, dürfte erhebliche Probleme bekommen, die proklamierten Ziele zu erreichen.

Gemeinsame Führung: Vertreter der Stakeholder (Inhaber, Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten, Kommunen...) im Führungsgremium sorgen dafür, dass die gemeinnützige Ausrichtung nicht vergessen wird - ebenso wie der Profit.

Transparenz: Offene Information für alle Stakeholder und nicht nur für die Inhaber - damit erst gar kein Misstrauen entsteht.

Schutz des Vermögens: In der Tat ein wichtiger Punkt. Irgendwie sicherstellen, dass das Vermögen keine Beine bekommt und das Unternehmen beim Eigentümerwechsel plötzlich mittellos dasteht.

Hach, mal wieder eine Utopie, ich weiß. Aber da diese Kriterien nicht von mir stammen, gleich eine ganze HBM-Ausgabe dem Thema gewidmet wurde und bekanntlich jeder Trend in den USA beginnt,
könnte an der Sache ja was dran sein.

Übrigens - so ganz an der eigenen Realität vorbei ist all das nicht "vorbeigeschrieben". Bei der jMS GmbH, an der MWonline beteiligt ist, leben wir die meisten dieser Prinzipien. Funktioniert gut.

Rezensionen zum Thema:
Anders wirtschaften
Auf dem Weg
Das wohltätige Unternehmen
Im Einklang mit der Gesellschaft, Harvard Business Manager 2/2012

Dienstag, 3. April 2012

Knifflige Personalauswahl

Wenn ein Bewerber sich bestens auf das Bewerbungsgespräch vorbereitet, auf jede Frage die richtige Antwort hat und sich genau so präsentiert, wie man das vom idealen Kandidaten erwartet, dann freut sich der Arbeitgeber. Wenn der gleiche Bewerber im Persönlichkeitsfragebogen genau die Alternativen ankreuzt, die ihn im besten Licht erscheinen lassen, dann ist der Arbeitgeber weniger glücklich. Schließlich will er doch wissen, wie der Kandidat "in Wirklichkeit" ist.

Das ist schon ein Dilemma, oder? Niemand möchte einen perfekt gedrillten Kandidaten vor sich sitzen haben, um nachher festzustellen, dass er in der konkreten Arbeitssituation leider nicht das hält, was er versprochen hat (das gilt umgekehrt übrigens genauso). Andererseits: Jemand, der alles tut, um den Job zu bekommen, zeigt zumindest Ehrgeiz, Fleiß, Engagement, Gewissenhaftigkeit - und soziale Kompetenz. Schließlich weiß er, wie man sich auf sein Gegenüber einstellt, er antizipiert die Erwartungen an ihn und passt sich ihnen an.

Sehr schmunzeln musste ich bei einem Artikel zu dem Thema, in dem es heißt, dass bei der Verhaltensbeobachtung im Assessment Center dies kein Problem darstellt. Wenn ein Kandidat hier z.B. im Rollenspiel das erwünschte Verhalten zeigt, dann beweist er damit soziale Kompetenz. Weil er die Situation richtig einschätzt und in der Lage ist, das erwünschte Verhalten in Handlung umzusetzen. Also hat er definitiv diese Kompetenz. "Ob er sie dann später im Berufsalltag auch zeigt, ist dann keine Frage mehr der Personalauswahl, sondern der Führung."

Das ist witzig. Könnte man mit der gleichen Berechtigung nicht auch sagen: Jemand, der im Interview die richtigen Antworten gibt, zeigt, dass er über das notwendige Wissen über richtiges Verhalten verfügt. Ob er dieses später im Job auch in Verhalten umsetzt, ist eine Sache des Trainings bzw. der Führung.

Oder noch böser: Wenn ein Kandidat im AC geglänzt hat oder im Interview jede heikle Frage mit Bravour gelöst hat, später aber die erzeugten Erwartungen nicht erfüllt, liegt es wohl an der Führungskraft, die ihn/sie nicht entsprechend geführt hat.

Es bleibt ein Dilemma. Sowohl AC als auch Einstellungsgespräch sind nie wirklich in der Lage, eine einigermaßen zutreffende Vorhersage über den Erfolg am Arbeitsplatz zu treffen. Allein schon deshalb, weil die reale Situation so vielfältig ist, dass kein Interviewleitfaden der Welt und keine Simulation im AC sie auch nur annähernd abbilden kann. Letztlich zeigt sich erst am Arbeitsplatz selbst, welche Kenntnisse und Fähigkeiten jemand "auf die Straße bringt" - was den Wert der Probezeit nur noch deutlicher macht.
Übrigens bin ich davon überzeugt, dass ein gut trainierter Kandidat in einem wenige Minuten dauernden Rollenspiel mehr Chancen hat zu glänzen als in einem ausführlichen Interview, bei dem nach konkretem Verhalten in der Vergangenheit gefragt und gezielt nach Beispielen geforscht wird. Aber da werden die Meinungen sehr geteilt sein...

Rezension zum Thema:
Selbstdarstellung in der Personalauswahl, Wirtschaftspsychologie-aktuell 4/2011