Dienstag, 28. Dezember 2010

Verletzten Seelen in die Augen schauen

Den Beitrag habe ich schon vor längerer Zeit entdeckt und mir vorgenommen, dazu etwas zu verfassen: Eris und Menschenbeurteilungsangst (Daily Dueck 126, Oktober 2010). Gefällt mir gut, musste mehrfach schmunzeln und dachte: Schön formuliert und ach so zutreffend. Vor allem diese Passage: "Tatsächlich haben die meisten Chefs Angst, ihre Mitarbeiter zu beurteilen und ihnen das Urteil zu erklären. Sie müssen dazu nämlich verletzten Seelen in die Augen schauen. Könnte doch eine Maschine nach Zahlen entscheiden!"

Es ist genauso, wie Gunter Dueck es beschreibt: Kein System der Welt macht aus einem schlechten Chef einen guten. Und kein Beurteilungssystem der Welt macht aus einem feigen Chef einen mutigen. Logische Schlussfolgerung: "Wer also solche neuen Systeme einführt wie der öffentliche Dienst und andere, muss sich deshalb auch um bessere Chefs kümmern." Wirklich logisch?

Nein, nicht logisch, sondern ein Denkfehler. Menschen, die in der Lage sind, andere Menschen in Bewertungssysteme einzusortieren und das Ergebnis den Betroffenen unter die Nase zu halten, sind keineswegs bessere Chefs. Sondern allenfalls gefühlskalt. Weil sie offensichtlich kein Problem damit haben, andere Menschen mit Noten zu belegen, komplexe Fähigkeiten und Eigenshaften mit schlichten Zahlen zu bewerten, wohlwissend, dass sie ihnen damit nur Unrecht tun können. Und sich dann haarsträubende Erklärungen einfallen lassen, um diese Machwerke zu rechtfertigen.

Klar, ich weiß schon, Lehrer bewerten Schüler ja auch mit Noten. Stimmt aber nicht: Sie bewerten bestimmte Werke (Klassenarbeiten, Tests) zu bestimmten Zeitpunkten, und nicht eine bestimmte Fähigkeit auf Basis mehr oder weniger vage erstellter Beschreibungen. Außer bei den unsäglichen Kopfnoten, die genauso unsinnig sind wie die Bewertungen von Mitarbeitern.

Und dennoch hat Herr Dueck in zweierlei Hinsicht Recht: Feige Chefs, die Mitarbeitern nicht offen und ehrlich Rückmeldung über ihre "Werke" geben, sind ein Übel. Und in der Tat ist jeder Chef in der Lage, seine "besten" Mitarbeiter zu benennen.

Aber genau das verlangen diese Beurteilungssysteme ja gar nicht. Sie fordern, die eigenen Mitarbeiter in Relation zu ALLEN Mitarbeitern des Unternehmens einzusortieren. Das aber ist völliger Blödsinn, das kann in der Tat niemand.

Ich gehe jede Wette ein, dass Vorgesetzte mit Beurteilungssystemen, die von ihnen verlangen,  Mitarbeiter bezüglich bestimmter Kriterien in eine Rangfolge zu bringen, deutlich besser klarkommen. Das würde zwar auch noch etwas Mut erfordern, aber macht Führung nicht unnötig schwierig.

Allerdings hätten dann die Personalstrategen keine vergleichbaren Daten über alle Bereiche und Mitarbeiter hinweg in der Hand, könnten keinen schönen Zahlenspiele veranstalten und keine tollen Charts produzieren. Und sich irgendwie überflüssig fühlen...

Montag, 20. Dezember 2010

Verändern? Auf jeden Fall. Aber immer anders.

Wann sollte man in einem Unternehmen neue Strukturen einführen? In einem sind sich die Fachleute einig: Nicht erst dann, wenn die Krise schon eingetreten ist, sondern viel früher. Aber nicht verändern um jeden Preis, sagen die einen. Vielmehr sollte man sich die Entscheidungsprozesse regelmäßig anschauen und überlegen, ob die Entscheidungen auch an den richtigen Stellen getroffen werden. Wenn nicht, ist es Zeit für eine Veränderung.

Im Gegenteil, sagen die anderen. Man sollte auf jeden Fall Veränderungen vornehmen. Weil nämlich der Mensch ein Gewohnheitstier ist, er bildet Netzwerke, greift auf bewährte Lösungen und Strategien zurück und wird von selbst kaum etwas ändern. Also muss er in regelmäßigen Abständen zu seinem Glück gezwungen werden.

Aber: Zu viel Regelmäßigkeit bei Veränderungen tut auch nicht gut. Denn auch daran gewöhnt sich der Mensch. Man muss also schon ein bisschen kreativ sein. Wie wäre es damit: Man führt ein neues Beurteilungssystem ein, das die individuellen Leistungen belohnt. Wenn sich die Mitarbeiter daran gewöhnt haben, stellt man um auf Teamleistungen. Anschließend geht es keineswegs zurück zur individuellen Prämie, sondern zur Abwechslung honoriert man langfristige Erfolge. Danach orientiert man die Leistungszulagen am Umsatz. Auf diese Weise bleibt die Organisation in Bewegung, und man erspart sich schmerzhafte Umstrukturierungen im großen Stil.

Nein, keine Satire, so gelesen im Harvard Businessmanager 8/2010. Damit wird mir so manches klarer. Das ständige Herumbasteln an den Organigrammen, Führungsinstrumenten und Leitlinien dient gar nicht der Suche nach der optimalen Version. Es ist sogar völlig egal, wie man sich organisiert, welche Werte ein Unternehmen vertritt oder mit welchen "Tools" die Führungskräfte gerade beschäftigt werden. Die Organisations- und Personalentwickler verfolgen lediglich die Absicht, die Mitarbeiter in Schwung zu halten und vor der nächsten großen Umstrukturierung zu schützen. Kaum haben sie sich das eine ausgedacht und eingeführt, sitzen sie zusammen und überlegen, was sie noch nicht probiert haben.

Womit auch jeder zukünftige Versuch, uns von den Vorteilen einer Matrix- gegenüber einer klassisch funktionalen Organisation zu überzeugen, einer Projektstruktur, zentralen oder dezentralen, kleinen oder großen Einheiten als Augenwischerei enttarnt ist. Wir müssen uns in Zukunft nur noch fragen: Hatten wir das schon? Wenn nicht - nichts wie ran...

Kleiner Spaß am Rande: In beiden Artikeln wird Cisco als Beispiel präsentiert. 

Rezension zum Thema:
Fitnessprogramm für Unternehmen, Harvard Businessmanager 8/2010
Das Entscheider-Prinzip, Harvard Businessmanager 8/2010

Mittwoch, 15. Dezember 2010

Werte einführen geht nicht

Es scheint das angesagte Thema zu sein: Führen mit Werten. Und schwups, wird daraus ein nettes Change-Projekt: "Wir führen neue Werte ein!" Der Ablauf kommt aus dem Rezeptbuch: Ist-Zustand analysieren, Soll-Werte definieren, einführen. Fertig. Mit den entsprechenden Aktivitäten wie Workshops, Kamingespräche, Intranet-Kommunikation usw. usw. Hin und wieder staunt der interessierte Leser, z.B. über "Oscar-Verleihungen" für Führungskräfte, die die neue Werte besonders gut verinnerlicht haben. Oder über "Wertebeobachter", die eigens hierfür installiert werden.

Ich halte nicht viel davon. Aus mehreren Gründen.

  1. Werte sind Dinge, die Menschen für wünschenswert, für wichtig halten. Manche werden von vielen Menschen geteilt (Gesundheit z.B. oder Freundschaft), andere werden unterschiedlich stark verbreitet sein (wie Sicherheit, Qualität, Status etc.) Egal, für welche Werte Menschen stehen: Jeder hat seine individuelle "Prioritätenliste", und diese dürfte sehr stabil sein. Diese "Wertehierarchie" zu ändern nach dem Motto: "Ab sofort gelten bei uns andere Werte!" ist mehr als anmaßend.
  2. Werte dienen der Orientierung, wir richten unser Handeln nach ihnen aus. Wir werden - so gut es eben geht - auch die Wahl unseres Arbeitgebers bzw. unserer beruflichen Tätigkeit entsprechend unserer Werte treffen. Kommt nun jemand daher und erklärt mir: Ab sofort gelten hier andere Werte, ändert sich damit mein (psychologischer) Vertrag. 
  3. In jedem Unternehmen gelten bestimmte Werte mehr als andere, und das in der Regel über viele Generationen. Das ist nur deshalb möglich, weil das Top-Management so ausgewählt wird, dass seine Werte zu denen des Unternehmens passen. Was auch sehr schlau ist, denn sonst müsste mit jedem Vorstandswechsel ein Großteil der Belegschaft ausgetauscht werden. 
Der letzte Punkt ist der entscheidende. Wenn ein Mangement ankündigt: "Ab sofort gelten neue Werte", ist das wenig glaubwürdig und wird immer im Sande verlaufen. Denn ein Management besteht aus Menschen, und diese wiederum stehen für bestimmte Werte, an denen sie ihr eigenes Handeln ausrichten. Egal, wie groß der Aufwand für ein Change-Projekt ist: Das Top-Management wird weiter die Werte vorleben, für die es schon immer gestanden hat, alle "neu implementierten" Werte werden keine Rolle spielen, sondern nur Irritationen auslösen.

Was anderes geschieht, wenn ein neuer Vorstand berufen wird, der tatsächlich andere Werte als das Unternehmen bisher vertritt. Ich bezweifle, ob solche Entscheidungen immer mit Bedacht getroffen werden, denn die Folgen dürften dramatisch und sehr teuer sein. Dann wäre ein "Change-Prozess" in der Tat eine Möglichkeit, um der Organisation klar zu machen, welche Werte ab sofort die Hauptrolle spielen. Aber diese werden nicht "implementiert", sondern werden sich ganz schnell in den ersten Entscheidungen und Handlungen des neuen Vorstandes zeigen. Unterscheiden sie sich gravierend von denen seines Vorgängers, wird sich das auch in den Personalentscheidungen zeigen, so dass im oberen Management etliche Positionsinhaber das Unternehmen wechseln.

Für den Rest, der im Unternehmen bleibt, kann ein möglicher "Werte-Prozess" dann maximal darin bestehen, dass die neuen Werte offen diskutiert werden, über die Folgen, die Risiken und Chancen gesprochen wird. Es wird Führungskräfte und Mitarbeiter geben, die unter den neuen Werten aufleben und begeistert mitziehen. Sie mit einem Award auszuzeichnen, ist kaum notwendig. Und es wird jene geben, die verunsichert sind oder sich gar betrogen fühlen. Will man diese dafür zu belohnen, wenn sie die neuen Werte vorbildlich umsetzen, hat das etwas von Dressur an sich, etwa so: "Wir wissen, dass diese Werte nicht deinen Überzeugungen entsprechen. Wenn du trotzdem brav mitziehst, kriegst du auch eine entsprechende Belohnung!"

Sie für die neuen Werte zu gewinnen, kann nicht bedeuten, dass sie die eigene Wertehierarchie über den Haufen werden müssen. Es kann nur bedeuten, dass man mit ihnen gemeinsam überlegt, welche Rolle sie mit ihren Prioritäten in dem "neuen Unternehmen" spielen können. Das dürfte für viele ein schmerzhafter Prozess sein, und so mancher wird früher oder später erkennen, dass er die neue Richtung nicht mitgehen kann und wird. Da hilft auch kein Change-Prozess...

Rezension zum Thema:
Mit Werten führen, wirtschaft + weiterbildung 5/2010

Montag, 13. Dezember 2010

Nur noch mit Sonnenbrille

Sollten Ihnen einmal am Flughafen Werbung für Anti-Falten-Créme oder Anti-Haarausfall-Schampoo auffallen, könnte diese etwas mit Ihrem Alter zu tun haben. Und sollte sich die Werbung mit einer Spielekonsolen-Reklame abwechseln, liegt das vielleicht daran, dass Sie von Ihrem 15jährigen Sohn begleitet werden. Wie das geht? Gesichtserkennungssoftware macht es möglich. Die Technik ist so weit fortgeschritten, dass sie offensichtlich bald in größerem Umfang Einzug in unser Leben hält. Sie ist angeblich sogar schon so weit, dass sie aus Seitenansichten oder Aufnahmen, die von schräg oben oder unten gemacht wurden, die "Frontalansicht" berechnen und damit einem Namen zuordnen kann. Bisher freuten sich vor allem Geheimdienste und Sicherheitsorganisationen, nun bekommen die Marketing-Fachleute strahlende Augen.

Naja, auf mich zugeschnittene Werbung - was soll's, könnte man sagen. Kenne ich doch aus dem Internet. Wenn ich mich bei Amazon einwähle, bekomme ich doch gleich Angebote, die zu meinen letzten Einkäufen passen.

Genau dieses Prinzip könnte nun auch im "richtigen Leben" genutzt werden. Kaum betreten Sie den Supermarkt Ihrer Wahl, empfängt Ihr Handy Sonderangebote derjenigen Produkte, die Sie bevorzugt erwerben. Oder Sie gehen an Reklametafeln, die, kaum dass Sie auftauchen, die Schrift wechseln und Sie mit Namen begrüßen.

Woher der zu Ihrem Gesicht passende Name kommt? Sollten Sie fleißig Fotos von sich selbst z.B. in Facebook hinterlegt haben, ist das sicher kein Problem.

Spinnen wir das mal ein wenig weiter: Sie betreten ein Amt und ohne sich zu erkennen zu geben, werden Sie mit Namen begrüßt und zu dem Schalter geleitet, wo Sie Ihren neuen Ausweis abholen können. In der Bank kommt Ihnen ein Berater entgegen und führt Sie in sein Büro, um Ihnen unter vier Augen mitzuteilen, dass Ihr Konto überzogen ist. Auch nicht verkehrt: Ihr Auto erkennt, dass Sie es sind, wenn Sie einsteigen und stellt Sitzhöhe und Spiegel automatisch ein. Mehr noch: Es registriert, wenn Ihnen die Augen zufallen und warnt Sie vor dem Sekundenschlaf. Praktisch eigentlich.

Dass Datenschützer die Haare zu Berge stehen, lässt sich leicht ausmalen. Nicht das Erkennen der Menschen per Computer ist das Problem, sondern die Möglichkeit, mit Hilfe dieser Technik unsere Wege bis auf den letzten Schritt zu verfolgen. So wie wir Spuren im Internet hinterlassen, kann auch im richtigen Leben jeder Weg aufgezeichnet werden. Da hilft laut Wirtschaftswoche nur eines: Eine große Sonnenbrille. Werden wir uns daran gewöhnen müssen, unseren Mitmenschen in Zukunft zu jeder Tageszeit vermummt zu begegnen? Ich bin ziemlich gespannt, was da noch auf uns zukommt. Rezensionen zum Thema: Im Fokus der digitalen Augen, Wirtschaftswoche 45/2010

Sonntag, 5. Dezember 2010

Ist der Mensch doch kein Egoist?

Die Diskussion irritiert und beschäftigt mich. Ich meine die Diskussion um den sogenannten Homo oeconomicus. Nach diesem Modell handelt der Mensch immer so, dass er den größtmöglichen Vorteil aus seinem Verhalten ziehen kann. Was bedeutet: Wir wägen ab, was uns ein Verhalten kostet, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass wir einen Nutzen daraus ziehen, wie groß dieser ist und entscheiden uns dann entsprechend. Andersherum ausgedrückt: Wenn der Nutzen geringer ist als die Kosten, lassen wir es bleiben. Erst recht, wenn nur andere einen Nutzen daraus ziehen, wir selbst aber nicht.

Nun kommen immer mehr Wissenschaftler daher und erklären, dass diese Theorie nicht zutrifft. Dass der Mensch durchaus in der Lage ist, altruistisch zu handeln. So spenden reiche Menschen riesige Summen für Hilfsbedürftige, wodurch sich ihr Vermögen reduziert statt vermehrt. Und viele Deutsche erklären sich in Umfragen bereit, mehr Steuern zu zahlen zum Wohle der Allgemeinheit. Was ihr privates Kapital reduziert. Ein Beleg gegen die Theorie des Homo oeconomicus?

Natürlich. Zumindest gegen die simple Variante, dass Menschen stets danach streben, ihre materillen Güter zu mehren. Wenn das so wäre, gäbe es weder Ehrenamt noch Menschen, die 1.Hilfe bei Verletzten leisten.

Was aber, wenn man die Theorie erweitert? Nach Erkenntnissen der Hirnforscher und Psychologen erleben wir erhebliche Glücksgefühle, wenn wir anderen etwas Gutes tun. Und schon Babys sind in der Lage, einem Erwachsenen die Tür zu öffnen, wenn dieser einen Stapel Bücher in der Hand hat und sie nicht allein öffnen kann - ohne Aussicht auf eine Prämie. Nach diesen Erkenntnissen könnte man also sagen: Wir handeln so, dass wir irgendeine Art von Belohnung erhalten - und wenn es das Glückshormon ist, das unser Hirn freisetzt. Damit würde die Theorie doch wieder stimmen.

Wenn diese Babys nichts tun und zusehen, wie der Mensch verzweifelt versucht, die Tür mit dem Fuß zu öffnen, gibt es keine Glückshormondusche. Nun müssen sie nur noch abwägen, ob der Aufwand, ihm zu helfen, in Relation zur Hormondusche zu einer negativen oder einer positiven Bilanz führt. Und der Homo oeconomicus ist gerettet.

Theorien und ihr Nutzen

Was meiner Meinung nach nur zu einer Erkenntnis führt: Wenn Menschen sich altruistisch verhalten, findet man im Nachhinein immer irgendetwas, das als Belohnung interpretiert werden kann. Wenn ich mich um meine pflegebedürftige Mutter kümmere, ohne dicke Erbschaft erwarten zu können, dann werden mir andere auf die Schulter klopfen und mein gutes Herz preisen. Oder mein Pflichtgefühl.
Und dann kann man daraus schlussfolgern, dass diese Anerkennung (zumindest für mich) einen höheren Wert darstellt als die Folgen eines alternativen Verhaltens. Ich handele damit also auch rational und mit dem Ziel, irgendeinen Nutzen zu mehren.

Das Problem solcher Theorien: Sie erklären alles und überhaupt nichts. Das gilt übrigens auch für die biologischen Ansätze: Wenn die Wissenschaft feststellt, dass unser Gehirn Glückshormone ausschüttet, wenn wir selbstlos handeln, dann hilft mir das nicht wirklich weiter. Weil in diesem Fall auch erst im Nachhinein eine Erklärung gefunden wird: Er hat einem anderen Menschen geholfen, also war die Aussicht auf das folgende Wohlgefühl wohl groß genug. Hat sich jemand aber anders verhalten, dann war der "Lohn" wohl nicht groß genug.

Ähnliches gilt auch für den evolutionstheoretischen Ansatz. Wem nützt eine solche Theorie?

Etwas anderes allerdings ist spannender: Theorien beeinflussen die Realität. Wenn ich davon überzeugt bin, dass Menschen ihr Verhalten am potenziellen materiellen Nutzen ausrichten, dann schaffe ich entsprechende wirtschaftliche und politische Systeme. Nach dem Motto: Wenn jeder seinen eigenen Nutzen maximiert, dann steigt insgesamt der Wohlstand. "Das war auch gut so", schreibt Daniel Rettig in der Wirtschaftswoche. Ach ja? Man stelle sich vor, die Ökonomen hätten einer anderen Theorie den Vorzug gegeben: Menschen handeln stets so, dass es ihren Mitmenschen
an nichts fehlt. Welche Gesellschaft hätten wir dann wohl?

Statt neue Theorien aufzustellen, die altruistisches oder egoistisches Verhalten erklären können, wäre das meiner Meinung nach eine viel interessantere Forschungsrichtung: Welchen Einfluss hat eine - vorherrschende - Theorie auf die Entwicklung einer Gesellschaft? Wenn der Homo oeoconomicus jetzt so sehr in der Diskussion ist, dann ist das m.E. ein Zeichen dafür, dass er seine Schuldigkeit getan hat. Er hat dazu beigetragen, dass wir in einer wohlhabenden Gesellschaft
leben, allerdings auch in einer Welt, in der Güter extrem ungleich verteilt sind. Was zu massiven Problemen führt und führen wird.

Durch welche Theorie wird er wohl ersetzt? Ich kann noch keine erkennen - was wohl nichts anderes bedeutet, als dass er zumindest vorerst noch das Denken und Handeln bestimmen wird. Bis ein Modell im Angebot ist, dass sich als "praktischer" herausstellt.

Rezension zum Thema:
Nicht ich, Wirtschaftswoche 43/2010
Der Mensch ist sozial, Wirtschaftswoche 43/2010

Mittwoch, 1. Dezember 2010

Wikileaks und der Zeitungstest

Die Aufregung ist groß. Wikileaks hat höchst vertrauliche Informationen ins Internet gestellt. Z.B. dass Kanzlerin Merkel wenig risikofreudig ist, Herr Westerwelle inkompetent und Herr Berlusconi unfähig und dazu noch eitel. Wer hätte das gedacht. Was ist daran so erschütternd? Dass es die Meinung amerikanischer Diplomaten ist? Peinlich ist daran nur, dass diese ihre Zeit damit zubringen, derartige Belanglosigkeiten als Erkenntnisse an ihre Regierung zu übermitteln.

Bitterer für die Politiker ist da schon, wenn sich herausstellt, dass die amerikanische Außenministerin ihre Diplomaten anweist, ausländischen Kollegen auszuspionieren. Wie FTD-Kommentator Axel Kintzinger schreibt: Das ist der Skandal, nicht die Enthüllung.

Nun sollen demnächst vertrauliche Informationen aus amerikanischen Großbanken enthüllt werden. Nehmen wir mal an, dass hier keine Kontonummern von Kunden veröffentlicht werden, dann frage ich mich, was daran so beängstigend sein soll? Ich habe ein interessantes Argument eines Journalisten gelesen (Joachim Zepelin in der FTD vom 1.12.2010), der die Rolle der kritischen Presse betont. Diese sei auch auf vertrauliche Informationen angewiesen, wenn sie unsaubere Machenschaften aufdecken will. Aber der Journalist prüft die Information und entscheidet dann "nach seinen Kriterien, ob und wie er sie veröffentlichen will und kann." Wikileaks hingegen gibt wahllos unübersehbare Mengen an sensiblen Daten preis.

Das ist doch interessant, oder? Da drängt sich ein ganz anderer Verdacht auf: Die Enthüllungsportale machen all diese sensationellen Details einer breiten Öffentlichkeit zugänglich, den Journalisten geht die Exklusivität flöten. Und das Argument, dass verantwortungsbewusste Journalisten die Informationen sichten und sorgfältig abwägen, was sie veröffentlichen, hat einen ganz faden Beigeschmack, wenn man an den Müll denkt, der über die Medien verbreitet wird. Im Übrigen sind es ja die Medien, die aus der Menge an Dokumenten genau jene herauspicken, über die sich jetzt die Welt empört. Wer von uns wühlt sich denn schon durch Wikileaks?

Bleibt das Argument des Vertrauensverlustes, von dem überall geschwafelt wird. Klar, den Diplomaten muss es peinlich sein, ihren Kollegen aus anderen Nationen beim nächsten Mal unter die Augen zu treten. Was sage ich einem Menschen, den ich woanders als aggressiv und inkompetent bezeichnet habe:  "War nicht so gemeint?" Wer Mumm hat, sagt: "Sorry, dass du es auf diesem Weg erfährst, was ich von dir halte. Ich vermute, du hast es ohnehin geahnt. Aber wo wir schon mal gezwungenermaßen ehrlich sind: Dann verrate mir doch gleich mal, was du über mich denkst?" Offene Feedback-Kultur - davon träumen wir "Soft Skills Experten" doch schon lange.

Wer nun aber Angst hat, sich überhaupt noch zu äußern, dem sei ein ganz einfacher Test empfohlen: Der Zeitungstest. Wenn man sich schon über jemanden äußern oder ein Urteil abgeben muss, sollte man sich überlegen, ob man damit leben könnte, wenn genau darüber am nächsten Tag ein Bericht in der Zeitung stehen würde. Wenn nicht, sollte man lieber den Mund halten. Wikileaks ist der Zeitungstest.