Sonntag, 5. Dezember 2010

Ist der Mensch doch kein Egoist?

Die Diskussion irritiert und beschäftigt mich. Ich meine die Diskussion um den sogenannten Homo oeconomicus. Nach diesem Modell handelt der Mensch immer so, dass er den größtmöglichen Vorteil aus seinem Verhalten ziehen kann. Was bedeutet: Wir wägen ab, was uns ein Verhalten kostet, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass wir einen Nutzen daraus ziehen, wie groß dieser ist und entscheiden uns dann entsprechend. Andersherum ausgedrückt: Wenn der Nutzen geringer ist als die Kosten, lassen wir es bleiben. Erst recht, wenn nur andere einen Nutzen daraus ziehen, wir selbst aber nicht.

Nun kommen immer mehr Wissenschaftler daher und erklären, dass diese Theorie nicht zutrifft. Dass der Mensch durchaus in der Lage ist, altruistisch zu handeln. So spenden reiche Menschen riesige Summen für Hilfsbedürftige, wodurch sich ihr Vermögen reduziert statt vermehrt. Und viele Deutsche erklären sich in Umfragen bereit, mehr Steuern zu zahlen zum Wohle der Allgemeinheit. Was ihr privates Kapital reduziert. Ein Beleg gegen die Theorie des Homo oeconomicus?

Natürlich. Zumindest gegen die simple Variante, dass Menschen stets danach streben, ihre materillen Güter zu mehren. Wenn das so wäre, gäbe es weder Ehrenamt noch Menschen, die 1.Hilfe bei Verletzten leisten.

Was aber, wenn man die Theorie erweitert? Nach Erkenntnissen der Hirnforscher und Psychologen erleben wir erhebliche Glücksgefühle, wenn wir anderen etwas Gutes tun. Und schon Babys sind in der Lage, einem Erwachsenen die Tür zu öffnen, wenn dieser einen Stapel Bücher in der Hand hat und sie nicht allein öffnen kann - ohne Aussicht auf eine Prämie. Nach diesen Erkenntnissen könnte man also sagen: Wir handeln so, dass wir irgendeine Art von Belohnung erhalten - und wenn es das Glückshormon ist, das unser Hirn freisetzt. Damit würde die Theorie doch wieder stimmen.

Wenn diese Babys nichts tun und zusehen, wie der Mensch verzweifelt versucht, die Tür mit dem Fuß zu öffnen, gibt es keine Glückshormondusche. Nun müssen sie nur noch abwägen, ob der Aufwand, ihm zu helfen, in Relation zur Hormondusche zu einer negativen oder einer positiven Bilanz führt. Und der Homo oeconomicus ist gerettet.

Theorien und ihr Nutzen

Was meiner Meinung nach nur zu einer Erkenntnis führt: Wenn Menschen sich altruistisch verhalten, findet man im Nachhinein immer irgendetwas, das als Belohnung interpretiert werden kann. Wenn ich mich um meine pflegebedürftige Mutter kümmere, ohne dicke Erbschaft erwarten zu können, dann werden mir andere auf die Schulter klopfen und mein gutes Herz preisen. Oder mein Pflichtgefühl.
Und dann kann man daraus schlussfolgern, dass diese Anerkennung (zumindest für mich) einen höheren Wert darstellt als die Folgen eines alternativen Verhaltens. Ich handele damit also auch rational und mit dem Ziel, irgendeinen Nutzen zu mehren.

Das Problem solcher Theorien: Sie erklären alles und überhaupt nichts. Das gilt übrigens auch für die biologischen Ansätze: Wenn die Wissenschaft feststellt, dass unser Gehirn Glückshormone ausschüttet, wenn wir selbstlos handeln, dann hilft mir das nicht wirklich weiter. Weil in diesem Fall auch erst im Nachhinein eine Erklärung gefunden wird: Er hat einem anderen Menschen geholfen, also war die Aussicht auf das folgende Wohlgefühl wohl groß genug. Hat sich jemand aber anders verhalten, dann war der "Lohn" wohl nicht groß genug.

Ähnliches gilt auch für den evolutionstheoretischen Ansatz. Wem nützt eine solche Theorie?

Etwas anderes allerdings ist spannender: Theorien beeinflussen die Realität. Wenn ich davon überzeugt bin, dass Menschen ihr Verhalten am potenziellen materiellen Nutzen ausrichten, dann schaffe ich entsprechende wirtschaftliche und politische Systeme. Nach dem Motto: Wenn jeder seinen eigenen Nutzen maximiert, dann steigt insgesamt der Wohlstand. "Das war auch gut so", schreibt Daniel Rettig in der Wirtschaftswoche. Ach ja? Man stelle sich vor, die Ökonomen hätten einer anderen Theorie den Vorzug gegeben: Menschen handeln stets so, dass es ihren Mitmenschen
an nichts fehlt. Welche Gesellschaft hätten wir dann wohl?

Statt neue Theorien aufzustellen, die altruistisches oder egoistisches Verhalten erklären können, wäre das meiner Meinung nach eine viel interessantere Forschungsrichtung: Welchen Einfluss hat eine - vorherrschende - Theorie auf die Entwicklung einer Gesellschaft? Wenn der Homo oeoconomicus jetzt so sehr in der Diskussion ist, dann ist das m.E. ein Zeichen dafür, dass er seine Schuldigkeit getan hat. Er hat dazu beigetragen, dass wir in einer wohlhabenden Gesellschaft
leben, allerdings auch in einer Welt, in der Güter extrem ungleich verteilt sind. Was zu massiven Problemen führt und führen wird.

Durch welche Theorie wird er wohl ersetzt? Ich kann noch keine erkennen - was wohl nichts anderes bedeutet, als dass er zumindest vorerst noch das Denken und Handeln bestimmen wird. Bis ein Modell im Angebot ist, dass sich als "praktischer" herausstellt.

Rezension zum Thema:
Nicht ich, Wirtschaftswoche 43/2010
Der Mensch ist sozial, Wirtschaftswoche 43/2010

1 Kommentar:

Leonhard Schnorrenberg hat gesagt…

Lieber Herr Thönneßen,
danke für Ihren Beitrag, mit dem Sie sich dem Thema und Ihrem Umgang damit stellen. Er inspiriert mich, um einige Gedanken mit Ihnen zu teilen. Ich stimme Ihnen voll zu, dass die Diskussion über den Nutzen des Homo oeconomicus ein Zeichen dafür ist, dass er sein Ende gekommen ist. Ich erlebe es deutlich, dass alte Formen des Miteinanders - auf welcher Beziehungsebene auch immer, vor allem in der Beziehung zu sich selbst (!) - von Innen heraus danach rufen, aufgelöst und durch neue Formen, neue Energien, ersetzt zu werden. Wissenschaftlich fundierte Theorien können dies nicht leisten. Ihre Quelle ist der Verstand, der verstehen und beweisen will, warum etwas so oder so ist. Das ist die alte Form, die Veränderungen nur dann ermöglicht, wenn der Nutzen im vorhinein erkannt, definiert und realisiert werden kann. Doch was ist mit dem Wesenskern des Menschen, der unaufhörlich ruft: "Werde zu dem, der du bist?" (C.G. Jung). Die neue Form hat meiner Meinung nach mit Liebe zu tun, die wir nur in unserem Inneren wahrhaftig wahrnehmen, uns von sie tragen und inspirieren lassen können. Wenn wir bereit sind, sie wirklich zuzulassen sowie ihr intuitiv zu folgen, dann werden große Veränderungen auf ´weiche´ Art und Weise möglich. Dienstbarkeit ist die Folge unseres Fühlens und Handelns, denn sie ist Liebe in Aktion. Der Verstand kann damit überhaupt nichts anfangen und wehrt sich so heftig wie er kann, diesem ´Un-Sinn´ zu folgen bzw. wäre erst dann bereit dazu, wenn er es verstehen würde. Und hier beißt sich die Katze in den Schwanz. Solange der Verstand regiert, statt dem Wesenskern des Menschen dienstbar zu sein, werden Theorien über Theorien geboren, die uns keinen Schritt zu unserer Authentizität und Integrität voran bringen. Alles, was zu neuen Formen strebt, muss zunächst sterben. Auch dieser Prozess hat mit Bewusstwerdung zu tun und ist natürlich. In vielen Bereichen erleben wir einen Sterbensprozeß, der durch Menschen initiiert ist, die aus dem Verstandesschlaf erwachen und sich selbst auf eine neue Art und Weise kennen lernen. Das Erwachen ist sehr schmerzhaft, reflektiert es doch die Schatten, die über unsere Menschlichkeit zu uns selbst und zu anderen liegen. Die gute Botschaft ist, dass wir im ´weich-werden´ fühlen, wie es uns selbst und anderen besser geht. Blaise Pascal formulierte es so: "Jeder Tropfen Liebe ist mehr als ein Ozean Verstand." In diesem Sinne wäre es empfehlenswert, in Resonanz zu bleiben mit allem, was ist. Was irritiert, hilft uns zu erwachen ... und was erwacht, hilft uns selbst zu lieben ... und Selbstliebe hilft, andere zu lieben, indem wir ihnen dienstbar sind. Der Homo oeconomicus ist eine Fata Morgana, eine Scheinwelt. Was wir brauchen, um dies zu erkennen, ist Demut, ´Der-Mut´sich seiner Menschlichkeit zu stellen. Weltfremd? Ein für mich signifikantes Beispiel für den pragmatischen Umgang damit sind die führenden US-Business Schools: Sie plädieren in ihren Lehrplänen schon seit einigen Jahren für die neue Qualität im Leadership: ´humble´ - bescheiden, demütig, Diener ihres Teams.

Und jezt werfe ich alles demütig in den Rhein, lasse es mit der Strömung fließen und wünsche allen LeserInnen eine inspirierende Vorweihnachtszeit.
Leonhard Schnorrenberg