Gleich zwei Artikel, die sich mit dem amerikanischen Traum beschäftigen - und dem Phänomen, dass dem Amerikaner das positive Denken vergeht. Der eine erschien in der Wirtschaftswoche und ist ein Auszug aus dem Buch "Smile or Die" der Amerikanerin Barbara Ehrenreich. Der andere stammt aus der Financial Times Deutschland und beschreibt den Niedergang der amerikanischen Durchschnittsfamilie. Beide Beiträge empfand ich als bedrückend, ja fast beängstigend.
Dass sich im Land der unbegrenzten Möglichkeiten die Kluft zwischen den Besserverdienenden und der durchschnittlichen Bevölkerung drastisch vergrößert hat, ist bekannt, ähnliche Phänomene kennen wir aus allen Teilen der Welt.
Bisher war es nur so, dass man uns Deutschen immer vorgehalten hat, wir würden den Reichen ihren Reichtum nicht gönnen und schürten so etwas wie Sozialneid, während man in den USA diese Unterschiede nicht nur toleriert, sondern sie als Anreiz begreift. Sie dienten zur Motivation, es selbst einmal ins Lager der Top-Verdiener zu schaffen, ganz gleich, woher man kommt. Und damit seien die Unterschiede auch der Motor für Fortschritt und Entwicklung.
Nun aber zeigen Statistiken zwei gravierende Entwicklungen: Zum einen ist das Durchschnittseinkommen der normalen Familie in den USA in den letzten 30 Jahren kaum gesteigen, und noch bitterer: Es ging ihnen am Ende eines Aufschwungs schlechter als zu Beginn.
Zum anderen stellt sich heraus, dass die Chance eines sozialen Aufstiegs in den USA deutlich geringer ist als zum Beispiel in vielen europäischen Ländern. Mit anderen Worten: Der amerikanische Traum bleibt heute tatsächlich für die meisten Amerikaner ein Traum, der Alltag besteht aus mehreren parallelen Jobs, Angst vor Erkrankung und Unfall und geringeren Chancen auf eine angemessene Bildung, die für die meisten nicht mehr zu bezahlen ist.
Womit sich die Frage stellt, ob das positive Denken nichts weiter als ein großer Schwindel ist. Etwa vergleichbar mit der Hoffnung auf den Lottogewinn: Jeder, der spielt, hat die Chance auf den Jackpot, aber kaum jemand wird diesen jemals erhalten.
Falsch, werden jetzt die Optimisten sagen: Positives Denken hilft beim Lotto natürlich wenig, aber beim eigenen Lebensweg sehr wohl. Weil man diesen, anders als beim Lotto, selbst beeinflussen kann. Tja, das ist einerseits richtig. Andererseits: Wenn die breite Masse der Menschen unter den derzeitigen Rahmenbedingungen ihren Lebensstandard nicht verbessert - liegt das dann wirklich daran, dass sie nur nicht positiv genug denken?
Drehen wir es mal anders herum: Jemand, der erfolgreich ist, wird immer von sich sagen, dass seine Fähigkeit, positiv zu denken, einen Anteil daran hatte. Aber ich fürchte, dieser Anteil wird gnadenlos überschätzt. In Wirklichkeit wird es so aussehen, dass eine ganze Reihe anderer Faktoren den Erfolg möglich gemacht haben, wobei der eigenen Optimismus nicht geschadet haben dürfte.
Und die Alternative? Barbara Ehrenreich sagt, dass die Menschen die Welt so sehen sollten, wie sie ist. Sie sollten die Chancen und Gefahren abschätzen und daraufhin eine realistische Einschätzung der eigenen Möglichkeiten vornehmen. Ein guter Rat? Was macht der Amerikaner, wenn er erkennt, dass er niemals im Leben zum oberen Prozent gehören wird, realistisch betrachtet? Er verliert seinen Optimismus. Und dann?
Rezensionen zum Thema:
Das Ende des amerikanischen Traum, Financial Times Deutschland 9.8.2010
Lächle oder stirb, Wirtschaftswoche 34/2010
Dienstag, 21. September 2010
Die Sache mit dem positiven Denken
Eingestellt von Johannes um 13:56:00
Labels: Erfolg, Gesellschaft
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6 Kommentare:
O Gott, das ist aber platt: "Wie die Ideologie des positiven Denkens die Welt verdummt"
Ebenso platt der Ratschlag der Autorin, man solle doch die Welt so sehen wie sie ist. Nur ein bisschen Watzlawick lesen und begreifen, dass das eben nicht geht. Dass wir die Welt nicht objektiv wahrnehmen können, sondern jeder sein eigenes Bild sich von der Welt macht.
Und da kommt das "positive Denken" ins Spiel. Es ist eine ganz persönliche Einstellung, ob man in der Zeitung etwas über die Wirtschaftslage liest - und welche Schlüsse man daraus zieht: "Hat alles keinen Zweck" oder "Chancen gibt es immer".
Bin etwas schockiert, dass Sie offensichtlich von der Argumentation der Autorin oder dem FTD-Artikel angesteckt wurden.
Kopf hoch!
"Womit sich die Frage stellt, ob das positive Denken nichts weiter als ein großer Schwindel ist."
Wer positives Denken mit der rosaroten Brille vergleicht wird mit der Methode auf den Bauch fallen. Auch wer (egal was passiert) sich immer "gut drauf" gibt.
Beim positiven Denken geht es um ein Denken in Möglichkeiten. Die Frage lautet daher immer: Was kann ich mit den (neuen/veränderten) Umständen tun? Welche Vorteile ergeben sich daraus?
Wenn der Wind weht, bauen die einen Mauern, und die anderen (positiv/konstruktiv denkenden) bauen Windmühlen.
Viele Grüße
Oliver Rumpf
Hallo zusammen,
ich gestehe, dass die Schlüsse, die man aus einem Artikel zieht, auch immer etwas mit der persönlichen Verfassung zu tun haben - und die könnte mich hier durchaus beeinflusst haben.
Dennoch: An dem Beispiel mit der Wirtschaftschaftsnachrichten lässt sich gut zeigen, wie manche Argumente in die falsche Richtung laufen. Wenn die eine Sichtweise wäre: "Hat alles keinen Zweck!", dann wäre das Gegenteil: "Alles wird gut!"
Wenn hingegen die Wahl besteht zwischen: "Chancen gibt es immer", dann ist das Pendant: "Risiken gibt es immer." Das ist es, worum es hier geht. Wer nur die Chancen sieht und die Risiken vernachlässigt, der fällt auf den Bauch. Insofern ziehe ich inzwischen die Auffassung vor, Und so habe ich die Autorin auch verstanden), das positive Denken durch das kritische Denken zu ersetzen und mich dann bewusst zu entscheiden.
Herzliche Grüße
Johannes Thönneßen
Für die Erkenntnisse hier, insbesondere "ein Schwindel", ist es höchste Zeit. Ausführlich wird das Problem unter der Bezeichnung Meudalismus behandelt: http://www.meudalismus.dr-wo.de
Victor E. Frankl hat das Buch verfasst "... trotzdem Ja zum Leben sagen". Das ist seine Lebensgeschichte aus der NS Zeit und seinem Überleben der Konzentrationslager.
Es geht dabei nicht um plattes "positiv denken" sondern um den Mut unter allen Umständen (Ich weiss nicht ob es schlimmere gibt) die Chance zu haben, das "Beste" aus der Situation (Leben) zu machen. Es geht um Sinngebung. Welchem Sinn gebe ich diesem Moment?
"Das Leben selbst ist es, das dem Menschen Fragen stellt. Er hat nicht zu fragen, er ist vielmehr der vom Leben her Befragte, der dem Leben zu antworten - das Leben zu ver-antworten hat." Victor E. Frankl.
Heinz von Förster würde sagen: "Nur die Fragen, die im Prinzip unentscheidbar sind, können wir entscheiden."
Also, wie viel Sinn macht Zuversicht? Wie viel Sinn macht Hoffnungslosigkeit? Was sind jeweils die Auswirkungen? Zu welcher Welt möchte ich einen Beitrag machen?
Ich bin mir sicher, dass "ver- antworten" nicht immer leicht ist.
Viele Grüße
Christoph Schlachte
... das positive Denken durch das kritische Denken zu ersetzen...
Muss denn das positive Denken im Widerspruch zu kritischem Denken stehen?
Die positive Psychologie geht doch weit über Selbst-Beschwörungsformeln hinaus und ich finde sie sehr spannend.
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