Mittwoch, 20. Juni 2012

Die Veränderungskurve

Es wäre sicher für etliche Modelle, die bei Beratung und Training im Einsatz sind, interessant zu untersuchen, welche Varianten es gibt und ob sie überhaupt jemals überprüft wurden. Ein Beispiel: Die Veränderungskurve.


Welcher Change-Manager hat sie noch nie eingesetzt? Ihren Ursprung kennen alle. Die amerikanische Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross hat sie nach hunderten Interviews mit sterbenden Menschen entwickelt, und wer sich näher mit diesem Thema befasst hat oder persönlich betroffen war, der kann diesen Verlauf sicher leicht nachvollziehen. Erst will man es nicht glauben, einfach nicht wahrhaben. Dann stellt sich Zorn ein, Zorn auf die Welt, das Schicksal, die anderen, die weiter leben werden. Es folgt die Phase, in der der Mensch wie ein kleines Kind verhandelt und auf Belohnung hofft, wenn es sich "richtig" verhält. Bis sich die Erkenntnis durchsetzt, dass alles Hoffen vergeblich ist. Verzweiflung und Trauer sind die Folge, eine wichtige Phase, um schließlich das Unvermeidliche anzunehmen.

Es gibt im Leben aber auch andere Momente, weniger existenziell, aber dennoch bedrohlich. Die Hypothese lautet, dass dann ähnliche Prozesse in uns ablaufen. Also zum Beispiel, wenn der Arbeitgeber dramatische Veränderungen in der Organisation ankündigt, der eigene Arbeitsplatz in Gefahr gerät, die Aufgabe wechselt, ein Werk geschlossen wird und man seinen Lebensmittelpunkt verlegen muss.

Aber ist diese Situation wirklich vergleichbar? Nur bedingt. Da mag es ja Menschen geben, die diese Veränderung schon lange gefordert und herbeigewünscht haben und mächtig froh sind, weil sie darin eine Chance für sich sehen. Etliche werden auch an den Veränderungsplänen beteiligt worden sein. Zudem bieten organisatorische Maßnahmen immer auch Gestaltungsmöglichkeiten. Und schließlich gibt es immer Alternativen - auch wenn eine Phase zu Ende geht, das Ende selbst aber ist es nicht.

Lässt sich die Kurve also überhaupt sinnvoll einsetzen? Mal abgesehen davon, dass offenbar empirische Studien dazu fehlen und sich die meisten Berater einfach darauf verlassen, dass schon etwas dran sein wird an der Parallele zum sterbenden Menschen?

Einsatz in Veränderungsprojekten

Schon, wie ein Beitrag in der OrganisationsEntwicklung 1/2012 deutlich macht. Immer vorausgesetzt, es gibt tatsächlich eine größere Anzahl von Menschen in der Organisation, die die Veränderung als Existenzbedrohung erleben. Dann kann das Modell helfen, den Entscheidungsträgern zu verdeutlichen, was gerade in ihrem Unternehmen geschieht. Dass die Hilflosigkeit, der plötzliche Zorn, der Versuch der Verhandlung und die folgende Resignation durchaus normale und menschliche Reaktionen sind. Und dass sie den Menschen Zeit geben müssen, diese Reaktionen zu zeigen.

Was in dem Beitrag nicht erwähnt wird: So ein Modell kann aber auch leicht missbraucht werden. Wie das? In echten Krisensituationen, die kaum Wahlmöglichkeiten lassen, mag das Modell unmittelbar nachvollziehbar sein. Also wenn z.B. das Unternehmen vor der Insolvenz steht. Aber in der Regel werden Change-Projekte eher vorbeugend initiiert, die konkrete Notwendigkeit, um existenzielle Bedrohungen zu verhindern, ist selten unmissverständlich gegeben. Klar, die Empfehlungen lauten, sie so transparent wie möglich zu machen. Dennoch wird immer der Eindruck bleiben, dass die Veränderung nicht ähnlich einem Schicksalsschlag unvermeidbar ist, sondern eine (mehr oder weniger) willkürliche Management-Entscheidung darstellt.

Wenn dann den Betroffenen oder auch den Entscheidungsträgern erklärt wird, dass die Reaktion auf die Veränderung natürlich ist und nach dem ersten Schock und der Verhandlung über die Depression sich in Akzeptanz verwandeln wird, dann scheint mir der Transfer des Modells alles andere als angemessen. Ich würde mich als Betroffener verschaukelt fühlen, wenn Manager eine Umstrukturierung beschließen, bei der mein Arbeitsplatz wegfällt und sich selbst damit beruhigen, dass die Reaktion darauf "normal" sei und mir erklären, meine Reaktion sei vergleichbar mit derjenigen eines Menschen, der von seinem nahenden Ende erfahren hat.

Was bleibt, ist die Empfehlung, sehr sorgsam mit solchen Modellen umzugehen und den Einsatz bedacht wählen. Ein guter Rat, der für viele Modelle gilt, aber der vermutlich nicht so häufig berücksichtigt wird...

Rezension zum Thema:
Die Veränderungskurve - Ein Berater-Mythos? OrganisationsEntwicklung 1/2012

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