Freitag, 6. Januar 2012

Reißbrett-CV

Angeblich sehen es Personaler in der Finanzbranche gar nicht mehr so gerne, wenn ein Kandidat einen allzu glatten Lebenslauf hat. "Reißbrett-CV" heißt das wenig wertschätzend. Wer nur auf Lebenslaufpunkte achte, der würde seine Persönlichkeitsentwicklung vernachlässigen. Wenn jemand allerdings mal richtig gearbeitet hat, z.B. als Schuhverkäufer neben seinem Studium, dann hätte er deutlich mehr Lebenserfahrung.

Da sträuben sich mir doch die Nackenhaare. Jahrelang wird den jungen Leuten erklärt, wie wichtig es ist, einen lückenlosen Lebenslauf zu haben, immer schön zielstrebig und fleißig Abschluss nach Abschluss hinlegen, möglichst mit Bestnoten - und wenn sie sich dann brav daran halten, ist ihr Lebenslauf zu glatt. Nun sollen sie also auch noch Schuhe verkaufen, wunderbar.

Total scheinheilig. Ein wenig Exotik, ein wenig "reales Leben" (natürlich neben dem Studium, bloß kein Zeit verlieren), fertig ist die Persönlichkeitsentwicklung. Ich möchte den Personaler sehen, der einen Kandidaten einstellt, der nach dem Abi erst mal Schuhe verkauft hat, weil er noch keinen Schimmer hatte, was er wirklich mal im Leben erreichen wollte. Da hört es sicher ganz schnell auf mit dem Loblied auf die Persönlichkeitsentwicklung.

Und ich wette, es werden schon neue Bewerbungsratgeber gedruckt, die den jungen Menschen raten, ihren Lebenslauf ein wenig aufzumöbeln, indem sie ein paar Wochen kellnern oder im Supermarkt Regale aufräumen.

Rezension zum Thema:
Jagd auf Akademiker, Financial Times Deutschland vom 11.11.2011

3 Kommentare:

D. Lux hat gesagt…

Da die Selektion in den meisten Fällen durch eine Mitarbeiter der HR-Abteilung oder eine Personalberaterin stattfindet, werden jene Bewerber ausgewählt, die das (meist idealisierte) Profil am ehesten erreichen und das geringste Risiko aufweisen.

Damit werden glatte CVs vor individuelleren Karrieren bevorzugt.

Meiner Erfahrung nach, gehen aber Unternehmer die selbst die CVs scannen oft (erfolgreich) andere Wege.

Beste Grüße,

Dominik Lux

Markus Väth hat gesagt…

Ich finde, das ist oft so mit Themen im Personalbereich (aber nicht nur dort). Das Pendel schwingt zwischen zwei Extremen, und damit man was zum Schreiben hat, favorisiert man mal das eine, mal das andere.

Und in Deutschland sind wir noch lange nicht soweit, dass wir aus einem "Schuhverkäufer" eine geeignete Persönlichkeit für ein Konzerntätigkeit etc. ablesen. Schon gar nicht von einem stromlinienförmigen Personaler.

Hans-Jürgen hat gesagt…

Na, ich hätte es früher auch so gesehen: Ein Lebenslauf, um ein wenig richtiges Leben geschönt, wirkt Wunder, ist aber eigentlich nur Augenwischerei. Andererseits erinnere ich mich, dass ich von meinen Erfahrungen als Werksstudent in der Produktion lange Zeit mental gezehrt habe, weil ich dabei Dinge lernen konnte, die mir ein Studium nicht mitgegeben hat.

Aber mal ein praktisches Beispiel: Ich kenne da eine junge Dame, die in diesem Jahr ihr Abitur ablegen wird. Seit drei Jahren verkauft sie nebenbei nicht Schuhe, sondern Bücher. Und dies mit ebensoviel Engagement wie ohne Beeinträchtigung der schulischen Pflichten - eben nebenbei. Diese Tätigkeit hat ihr zu einer persönlichen Reife verholfen, die ich in diesem Alter nicht besaß und die sie über viele ihrer Klassenkameraden hinaushebt.

Sollte es zum Schwur kommen, bin ich ziehmlich sicher, dass sie bei einem Bewerbungsverfahren in einer Bank die meisten ihrer Konkurrenten locker deklassieren würde - gleiche Qualifikation vorausgesetzt.

Ich bin allerdings ebenso sicher, dass dieser Fall schon deshalb nicht einträte, weil sie eine solche Branche als blöd empfände.

Wo also ist der Nachteil, mal "richtig" gearbeitet zu haben? Ich glaube schon, dass ein Manager, der mal als junger Mensch in einer Waschkaue gestanden hat, Führung mit anderen Augen sieht. Ein paar Wochen Schuhe verkaufen helfen da allerdings nicht viel. Neben einem Studium zu arbeiten ist keine Schande - allerdings nur, wenn es nicht überhand nimmt und sich die Apologeten der schlanken Biografie endliche von der Illusion des Studium-in-sechs-Semestern-und-alles-über-das-Leben-gelernt verabschieden könnten.

Was mich allerdings wirklich ärgert, ist der Versuch, alles in ein vorher definiertes Korsett von Regeln zu zwängen, um anschließend deppensichere Entscheidungskriterien zu haben. Es führt kein Weg an der individuellen Prüfung eines Kandidaten vorbei. Und dabei kann sich auch erweisen, dass der ehemals stellvertretende CEO eines Internet-Startups eben ungeeigneter ist als der Aushilfs-Schuhverkäufer.