Immer noch werden Berichte über 360-Grad-Feedback-Verfahren veröffentlicht, wirklich Neues tritt dabei nicht zutage. Es wäre eigentlich an der Zeit, mehr über konkrete Erfahrungen zu lesen. Z.B. darüber, wie sich diese Verfahren über die Jahre hinweg entwickeln - und ob sie sich überhaupt entwickeln. Ich kann mich erinnern, dass es vor 15 Jahren die ersten Artikel zu dem Thema gab, da müsste es doch inzwischen eine Menge zu erzählen geben. Fehlanzeige.
Was mich am meisten verwundert, ist die Naivität, die nach wie vor viele Verfahren begleitet. Vor allem dann, wenn so eifrig betont wird, dass man den Fach- und Führungskräften die Möglichkeit geben will, mit Hilfe eines Fremdbildes aus vielen Perspektiven das eigene Verhalten und damit mögliche Entwicklungswege zu reflektieren.
Würde man das tatsächlich Ernst nehmen, kann das Verfahren nur so aussehen, dass der Feedbacknehmer sich freiwillig für eine Teilnahme meldet, die Feedbackgeber selbst auswählt, anschließend die Ergebnisse mit einem neutralen Coach bespricht und die Gelegenheit bekommt, darüber auch mit den Feedbackgebern zu sprechen. Dazu müsste man die vielbeschworene Anonymität allerdings aufheben, zumindest müsste man die Ergebnisse nach Gruppen trennen. Vorteil dieses Vorgehens: Man kann davon ausgehen, dass die freiwilligen Feedbacknehmer an den Ergebnissen tatsächlich interessiert sind und sich anschließend auch intensiv mit ihnen auseinandersetzen. Nachteil: Führungskräfte, die nicht an ihrem Bild bei anderen interessiert sind, werden sich auch nicht entwickeln - und es liegt nahe, dass hierunter nicht wenige sind, die es nötig hätten.
Massive Widersprüche
Und genau hier liegt wohl der Grund, warum man von Seiten der Personaler das Instrument völlig widersprüchlich behandelt und kommuniziert. Da wird offiziell der Entwicklungscharakter betont und dass es sich keineswegs um eine Beurteilung handelt, die Auswirkungen auf Gehalt und Beförderung hat. Gleichzeitig setzt man ein "Entwicklungsgespräch" mit dem Vorgesetzten und einem Personaler an, bei dem es darum geht, Entwicklungsziele festzulegen, Maßnahmen zu planen und die Ergebnisse zu kontrollieren. Wem, bitteschön, will man denn hier weismachen, das habe keinen Einfluss auf die Beurteilung und die Karriere im Unternehmen? Der Personaler vergisst ganz schnell wieder, was er gesehen und gehört hat? Der Vorgesetzte ignoriert die Ergebnisse bei der nächsten Gehaltserhöhung einfach und trifft Entscheidungen über Beförderungen völlig unabhängig vom Ausgang des 360-Grad-Feedbacks? Absurd, oder?
Natürlich werden viele der Betroffenen gar nichts dagegen haben, dass ihr Chef oder die Personalabteilung sieht, wie sei eingeschätzt werden. Und so mancher wird denken: "Gut, dass auch dort endlich mal erkannt wird, wie dieser oder jener tatsächlich im Unternehmen wahrgenommen wird." Allerdings sollte man dann dieses Instrument nicht mehr "Feedback", sondern "Beurteilung" nennen. Und man sollte allen Beteiligten klar machen, dass es natürlich einen Einfluss auf Personalentscheidungen und Karriereentwicklung hat.
Alles andere ist scheinheilig, bestenfalls naiv und auf jeden Fall dazu angetan, sich als Personalentwickler einmal mehr unglaubwürdig zu machen.
Rezension zum Thema:
Vielstimmig statt unisono, Personalwirtschaft 11/2009
Montag, 15. Februar 2010
Unglaubwürdig oder einfach nur naiv - Das 360-Grad-Feedback
Eingestellt von Johannes um 12:44:00
Labels: Personalentwicklung
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6 Kommentare:
Lieber Herr Thönneßen!
Danke, dass Sie das Thema aufgegriffen haben. Ich denke, man kann zwei Ebenen oder mehr unterscheiden, die Methodik und die Wirkung.
Methodisch gibt es sicher ein paar Varianten. Aber wie Sie schon sagen, es kommt eigentlich auf die Beteiligten und die Auswirkung an. Ich habe in meiner Masterarbeit 360°-Feedback und Coaching kombiniert. Das Feedback war eine Coachingintervention. Die Coachees konnten sich die Feedbackgeber aussuchen - ihre Forderung. Dass ich das jetzt bei Ihnen lese hat mich ein wenig bestätigt.
Das Thema Freiwilligkeit betrifft meines Erachtens alle Instrumente der Personalentwicklung. Wer wird ein internes Assessment Center, ein Coachingangebot oder ein Training ablehnen? Man/frau will in den meisten Fällen schließlich Karriere machen. Immer wenn es Interessenskonflikte gibt, wie sollte man sich öffnen können und gleichzeitig sich bewußt sein über implizite oder explizite Auswirkungen auf das Fremdbild im Unternehmen und damit auch Auswirkungen auf die Karriere? Das Ergebnis ist davon beeinflusst.
Deshalb halte ich persönlich nichts von einem Coaching durch den Vorgesetzten. Dieser kann sicher Coachingtechniken einsetzen, mehr aber auch nicht. Es wird kein Coaching sein. Es wird Führung sein und das sollte es auch.
Wie soll jemand also offen Feedback geben können, wenn man im gleichen Systemzusammenhang voneinander abhängig ist? Die Konstellation ist völlig egal, ob nun Vorgesetzter-Mitarbeiter, Kollege-Kollege, Mitarbeiter-Vorgesetzter, Abteilung A zu Abteilung B ...!
Unterm Strich denke werden wir mit diesen Beschränkungen leben müssen. Mit der Einschränkung zu arbeiten ist meines Erachtens noch besser, als gar nichts zu tun.
Frage am Rande, wie halten Sie es denn bei MWonline?
Schönen Gruß
Fritz Horsthemke
Hallo Herr Horsthemke,
in unserer Bürogemeinschaft gibt es in unregelmäßigen Abständen offene Feedbacks, d.h. auf Wunsch setzen sich alle zusammen und geben demjenigen, der es möchte, eine Rückmeldung, wie er wahrgenommen wird, worin man seine Stärken sieht und was sich die anderen von ihm wünschen. Die meisten (aber nicht alle) haben bisher mindestens einmal darum gebeten.
Hallo Herr Thönneßen,
ich bin nun auch überrascht. Denn tatsächlich haben sich meine 360°-Interventionen in den letzten 15 Jahren massiv verändert. Vielleicht sollte ich einen Artikel darüber schreiben?
Nun denn: mein "Renner" sind 360°, die nur auf freiwilliger Basis durchgeführt werden, Auswertung erfolgt im Rahmen einer Management-Weiterbildung, bei der es zusätzlich ein neutrales Coaching gibt. Die Rückmelder sind nur "Teilanonym", das heißt, dass sie in Einzelgruppen aufgesplittet werden. Der große Teil des Inhalts der Weiterbildung geht darum, wie man nun in KONTAKT mit den Rückmeldern geht, um eine nachhaltige Kommunikation darauf aufzubauen. Noch eine Besonderheit: Es ist kein Stärken-/Schwächen-360, wie früher üblich. Es werden Führungsrollen abgebildet, die alle wertschätzend sind, aber unterschiedlich stark ausgeprägt vom Einzelnen vertreten werden. Das erleichtert die Akzeptanz (aller Beteiligten) und es erfolgt weniger Stigmatisierung.
Entspricht das so ungefähr dem, wie Sie es sich vorstellen würden?
Viele Grüße aus dem Norden von
Jürgen Weiß - PE-Solution
Hallo Herr Weiß,
ein sehr sinnvoller Ansatz, wie mir scheint, danke für Ihren Kommentar. Vor allem die Rückmeldung basierend auf den Rollen finde ich interessant.
Mir geht es letztlich nur darum, dass man klar sagt, wozu man solche Instrumente nutzen will. Es ist ja auch eine Möglichkeit, das Verhalten einschätzen zu lassen im Sinne einer Beurteilung mit allen Konsequenzen. Nur sollte man das dann auch deutlich machen und nicht von Feedback reden, was letztlich dem Instrument, aber auch allen Beteiligten nur schadet.
Hallo Herr Thönnesen,
hier eine ganz aktuelle Geschichte: Wir führen gegenwärtig in der Schweiz ein "flächendeckendes" 360° Feedback bei allen 320 Führungskräften einer Firma durch, die sich in einem überlebenswichtigen Veränderungsprozess befindet. Neben anderen "Hebeln" hatten wir eine Coaching-orientierte 360° Vorgehensweise geplant. Im Vorfeld erfuhren wir jedoch so massives Misstrauen, daß wir beinahe es beinahe nicht durchführen konnten . Und dies, wie wir dann erfuhren, ohne Zweifel zurecht! Hatte doch diese Firma vorher ein selbstgebasteltes 360° Tool eingesetzt, das in der üblichen Weise "naiv" ist:
* Die Fragen erfassen auch Einkommens-relevante Werte dieser Firma
* Die Feedbackgespräche - falls es sie überhaupt gab - werden von den Personalbetreuern der Firma durchgeführt
* Die schriftlichen Reports wurden immer wieder vom Personalbetreuer den Vorgesetzten gezeigt und mit diesen besprochen - teilweise bevor der Coachee selbst die Daten erhielt.
Daß nun ein Teil der Betroffenen jedes Instrumentarium, das nach der 360° Methode antritt, als Aushorch-Instrument und verkapptes Personal-Beurteilungssystem verdächtigt, ist völlig verständlich! Diese kontra-produktive Vorgehensweise ist extrem schade und erschwert bzw. verhindert aktiv das wichtige, auf Feedback beruhende persönliche Coaching.
Der Hauptpunkt für ein optimales 360° Feedback ist das klare Vermitteln von Zielen und Regeln hinsichtlich von
- Coaching oder Beurteilung
- Freiwilligkeit
- Anonymität
- Vertraulichkeit.
Ich habe durchaus Firmen erlebt, in denen bei einer bereits bestehenden Vertrauenskultur das Ergebnis – nach dem Coachinggespräch – selbstverständlich mit dem jeweiligen Vorgesetzten besprochen wurde. Für andere Firmen / Organisationen wiederum war eine extreme Sicherung von Vertraulichkeit und Anonymität essentiell.
Natürlich ist der freiwillige Einsatz wünschenswert - und der ist bei Einzelcoachings weitgehend gewährleistet. Nebenbemerkung: Wieweit es "freiwillig" ist, wenn ein Vorgesetzter seinem problematischen Mitarbeiter nahelegt, ein Coaching mit einer 360°Befragung durchzuführen, ist fraglich - obwohl es sicher eine richtige, hilfreiche Maßnahme sein kann!
Ein 360° basiertes Coaching in Organisationen hat nach meiner Erfahrung (seit 1983) seine beste Wirkung, wenn zumindest folgende Punkte berücksichtigt werden:
• Ziel ist das Coaching und die Befragungsergebnisse sind der "Türöffner". Dies muss klar und eindeutig kommuniziert sein.
• Die Teilnahme sollte für definierte Gruppen obligatorisch sein. Wenn man in einer Organisation die 360° mit Coaching nur auf freiwilliger Basis einführt, dann machen die Hardliner bzw. diejenigen, die es nötig hätten, nicht mit.
• Die statistischen Ergebnisse sowie die Inhalte des Beratungsgesprächs sind vertraulich und "gehören" ausschließlich dem Coachee / Manager. Der Bericht wird nur dem Coachee ausgehändigt!
• Der Fragebogen sollte keine Einkommens-relevante Fragen beinhalten. Wir arbeiten deshalb mit 15 assoziativen Gegensatzpaaren (semantische Differentiale). Die sind einerseits so einfach ("offen - verschlossen"), dass sie in allen Sprachen benutzt werden können, was unsere internationale Clientel erwartet. Was aber wichtiger ist: die statistischen Ergebnisse sind ineinander verwoben, assoziativ verknüpft und erfordern somit eine Interpretation - zusammen mit dem Coachee! So ist dann der Coach kein Urteilsverkünder, sondern ein Fragender, Rätselnder und Entdeckender zusammen mit seinem Coachee!
• Entscheidend ist, dass das Feedback bzw. Coaching-Gespräch absolut vertraulich behandelt wird - der Coach ist nur dem Coachee verpflichtet! Die Coaches sind immer Externe, therapeutisch gut ausgebildet und in diesem Instrument zertifiziert.
• Ein Budget für Nachsorge muss bereit stehen (weitere Coachings, Konfliktmoderationen, Teamworkshops etc.).
Mit herzlichen Grüßen und freudiger Erwartung, ob und wie diese Diskussion weiter geht.
Ihr Rainer Wetz (IAK, Köln)
Hallo Herr Wetz,
na sowas, da werden für mich doch Erinnuerungen an einen uns beiden bekannten Konzern wach. Lang ist's her.
Nette Werbung für Ihr Instrument.
Ich teile Ihre Meinung ganz und gar nicht, dass Feedback für bestimmte Gruppen "obligatorisch" sein sollte. Feedback ist immer freiwillig. Man kann auch keinen Menschen zwingen, sich die Diagnose seines Arztes anzuhören. Wenn er nicht will, will er nicht.
Beurteilungen kann man obligatorisch machen. Das kann durchaus auch eine 360-Grad-Beurteilung sein. Und das sollte vorher auch klar kommuniziert werden, wie Sie auch schreiben.
Hardliner mit einem 360-Feedback zu "beglücken" und am besten auch noch mit einem Coaching zu verbinden, das klingt für mich sehr danach, die Führungsaufgabe an den Externen zu delegieren.
Was das Thema "Vertraulichkeit" betrifft, habe ich erlebt, dass Coachs sich ganz offen über die Ergebnisse bestimmter "Feedbacks" mit den Auftraggebern ausgetauscht haben. Da kann ich das Misstrauen gut nachvollziehen.
Bin auch gespannt auf weitere Diskussionsbeiträge.
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